Nachschlag – Am Ende der Welt

Es geht nicht weiter. Das habe ich kurz vor Dortmund gedacht, als das Knie bedrohliche Ausfallerscheinungen zeigte. Aber es ging. Man muss eben manchmal auch beißen. Jetzt geht es wirklich nicht mehr weiter, denn nun kommen ein paar tausend Kilometer Wasser bis dann irgendwann Florida oder Kuba oder sonst was auftaucht. Da das Fahrrad noch schlechter schwimmen kann als ich, lassen wir das lieber.Der Moment, hier anzukommen, war emotionaler als der Moment vor der Kathedrale in Santiago. Aber das mag auch daran liegen, dass ich der Natur schon immer mehr verbunden war als der Kultur. Eine rauhe Küste ist mir tausendmal lieber als Säulen, Kirchtürme und Altäre. Und wenn einem dann noch auf einem Kilometerstein mit der Zahl Null klar gemacht wird, dass es definitiv nicht weitergeht, ist das toll.

Kann ich jetzt schon, ein paar Stunden nach der Ankunft, ein Fazit ziehen? Ich denke ja, auch wenn vieles sicher in den kommenden Tagen und Wochen noch in meinem Kopf wieder ablaufen wird, kann ich schon ein bisschen zusammenfassen. Was war gut und was war schlecht? Es ist nicht schön, auf versifften französischen Campingplätzen morgens ein nasses Zelt einzupacken. Schlecht ist, am ersten Tag in Bergen an der Dumme zu sein, fürchterlichen Muskelkater zu haben und zu wissen, dass man gar nichts, aber wirklich gar nichts bislang geschafft hat. Das ist ein Moment, in dem man kurz mit dem Gedanken spielt, zuhause anzurufen und zu sagen: „Hol mich ab, das war alles eine Scheißidee.“ Nicht schön sind die letzten 500 Meter auf den Somport-Pass. Wenn die Muskeln in den Oberschenkeln brennen, wenn jeder Tritt zur Qual wird und man die Hoffnung verliert, diesen Pass jemals zu erreichen. Undenkbar. Damit habe ich aber auch schon alles Schlechte zusammen.

Und das Gute? Wenn ich das jetzt alles aufschreiben würde, müsste ich das iPad zwischendrin dreimal an die Steckdose hängen. Die grenzenlose Freiheit auf der Meseta, wenn um Dich herum nur kilometerweite Weizenfelder stehen. Kein anderer Mensch, kein Auto, kein Vogel – niemand. Und wenn Du einfach mal ausprobieren kannst, wie laut ein Mensch schreien kann. Nicht vor Schmerz, sondern vor Glück über diese grandiose Landschaft. Das ist gut.

Gut ist, Deinen Schatten am Morgen auf dem Asphalt zu sehen, wie er sich bewegt und bewegt und bewegt. Und dieser Arsch von Schatten muss dafür noch nicht einmal etwas tun. Das erledigt das Herrchen alles. Genial sind die Gedanken, die auf monotonen französischen oder spanischen Landstraßen entstehen. Werden die kunstvollen Kilometersteine am Straßenrand, wenn die Kilometer einen runden 100er erreichen, vom König gesetzt? Und muss die spanische Königin mit ihren dünnen Ärmchen assistieren? Wie hoch ist der Reifenverbrauch französischer Autofahrer angesichts des Zustandes ihrer Straßen?

Gut ist, wie schnell der französische Campingplatz nach fünf Kilometern auf dem Asphalt vergessen ist. Gut ist, wie schnell es geht, dass man sich keinerlei Sorgen mehr über das macht, was in zehn Kilometern oder morgen oder kommende Woche passiert. Es wird so passieren, wie es passiert. Man muss ein bisschen organisiert sein und darauf achten, auf den Campingplätzen oder in den Herbergen nichts zu vergessen. Immer genügend Wasser, Geld und Zigaretten bei sich haben. Der Rest erledigt sich.

Und das Beste von allem? Die schlechten Dinge sind so schnell vergessen, das zum Schluss nur, wirklich nur, das Positive bleibt.

Im Moment habe ich vom Radfahren erst einmal genug. Aber wahrscheinlich werde ich in spätestens zehn Tagen bei Herrn Schoknecht, dem besten Buchhändler Schwerins, stehen und neue Landkarten für den nächsten Plan bestellen.

Jetzt aber sitze ich in der Piratenbar in Finisterra, habe Navajos bestellt, neben mir sitzt eine Truppe von Spaniern und macht Musik und ich freue mich einfach, dass es so ist, wie es ist.

Ich will diesen Moment aber auch nutzen, um einfach Danke zu sagen. Mal sehen, ob es mir gelingt, an alle zu denken.

Mein größter Dank geht an Andrea. Sie hat ermöglicht, dass ich die Pilgerfahrt machen konnte, hat meinen Plan von Anfang an unterstützt, hat mich jeden Tag am Telefon oder per FaceTime motiviert. Und beim Anstieg auf den O Cebreiro war sie in verwandelter Form sogar persönlich dabei. Ein kleiner Schmetterling hatte sich auf meine Lenkertasche gesetzt und ist vier Kilometer drauf sitzengeblieben. Erst auf der Passhöhe flog er davon. Der kleine Schmetterling war Andrea, die mich begleitet und angefeuert hat. Sie hatte sich eben nur mal verwandelt. Und Schmetterlinge können ja fliegen. Für die ist es von Klein Rogahn zum O Cebreiro ein Klacks. Andrea, ohne Dich hätte ich das nie geschafft. Auch dafür liebe ich Dich.

Über diesen Blog konnte ich Verbindung zu vielen Menschen halten, die ich alle gar nicht per Mail, Telefon oder SMS hätte informieren können. Rieke und Alexander, Imke und Nils, Ferenc, Ralf, Dietrich und Hartmut (IX 1, IX 110 und IX 4 – so viel Zeit muss sein), Silke-Maria, Katrin aus Celle, Ulli, Lydia, Claudia, Beate (nicht Du, Schwesterchen), Heike und Marie Sol (Du hast mein Auge gerettet), Ines, Cheryl und Gudrun, ich bekomme gar nicht alle zusammen. Danke für Eure Unterstützung.

Anja, Axel und Inga, Ihr seid die Retter in der Not gewesen. Das werde ich Euch nie vergessen. Ohne Euch wäre der ganze Spaß in Hemmerde zu Ende gewesen. Die Art, wie Ihr mich aufgenommen habt, war einfach umwerfend.

Meine Tante, bei der ich im Schwarzwald Station gemacht habe, war wie immer meine Tante. Jeder sollte auf dieser Welt eine Hanning haben. Ohne Hanning hätte das alles auch nicht funktioniert. Ihre Liebe ist großartig.

Mein Freund Reinhold, der mit Ausnahme eines Telefons mit Wählscheibe über keine neumodischen Apparate verfügt. Wir hatten deshalb nur wenig Kontakt. Aber ich weiß, dass Deine Gedanken täglich mit mir unterwegs waren.

Meine Eltern und meine Schwester. Ihr seid jeden Tag eine große Stütze gewesen. Es war toll zu wissen, dass Ihr Euch über jeden Kilometer gefreut habt, den ich zurück gelegt habe. Ich hätte da aber noch einen großen Wunsch! Aber das liegt außerhalb meiner Macht.

Wahrscheinlich habe ich jetzt den einen oder anderen vergessen. Bitte verzeiht das.

Und ich danke natürlich meinem Fahrrad. Ich kann Euch versichern, wer denkt, ein Fahrrad sei eine seelenlose Maschine aus Stahl und Kunststoff, der irrt. Es kann sprechen. Danke für jeden Meter, mein Fahrrad.

Ich habe auch viel an die gedacht, die mir in den vergangenen Jahren übel mitgespielt haben. Und denen sei gesagt – Danke. Wenn ich an Euch dachte, fiel mir immer der Anfang von „Doctor Jimmy“ von The Who ein. „Laugh and say I’m green, I’ve seen things you’ll never see.“ Verwaltet Euch zu Tode und haltet Euch für wichtig. Das, was ich erlebt habe, werdet Ihr niemals erleben. Viel Spaß im Dienstwagen.

Es waren die zweitintensivsten Wochen meines Lebens. Getoppt nur vom 29. Oktober 2004. Es ist toll zu leben!

Bleiben noch Fragen?

Für mich nicht. Aber für Generationen von spanischen Klempnern. Wozu ist das zweite Loch in den Halterungen für Duschköpfe da? Ich kann Euch helfen. Bohrmaschine, Dübel, Schraube – und das Ding wackelt nicht mehr.

Danke, Merçi, Graçias por todo.

Ich habe das Glück gesehen. Was will man mehr?

5 Kommentare zu „Nachschlag – Am Ende der Welt

  1. Hallo Christian,
    sehr autentisch und emotional und in den Empfindungen fast deckungsgleich mit meinen Erlebnissen.
    Schöner Abend in Fisterra
    Peter

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  2. Du sprichst/schreibst mir sooo sehr aus dem Herzen !
    So eine Tour ist anstrengend und „schlimm“ (5 Tage Dauerregen bei meiner ersten Alpenüberquerung uam), – aber: Viiiiel mehr „schön und unvergesslich“ !!
    Es kann auch leicht zur „Sucht“ werden…
    Immer, wenn ich zurück bin, sage ich: Ich kann kein Fahrrad mehr sehen..-
    und 4 Wochen später plane ich schon wieder die nächste Tour 😉
    Jetzt macht mir meine Gesundheit einen kleinen – zum Glück nur einen kleinen – Strich durch meine Pläne 2018-2010.. mein Kardiologe „mahnt zur Vorsicht“ bei Überanstrengungen..
    Also werde ich mir ein Pedelec zulegen und dadurch die Spritzenanstrengungen mindern..- Hauptsache.. wieder rauf auf´s Rad 🙂 !

    Beste Grüße aus Flensburg,
    Karl

    Lieber mit dem Rad zum Strand, als mit dem Porsche ins Büro 🙂 !

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  3. Hallo Christian,
    Deine ehemalige WG-Mitbewohnerin ist ganz begeistert von Deinem Blog! Er ist witzig, klug und informativ – was will man mehr? Habe ihn mit großem Vergnügen und Bewunderung gelesen! Als Santiago-Pilgerin kann ich vieles nachvolziehen und bekräftigen, was Du über Pilgererfahrungen schreibst, auch, wenn ich zu fuß unterwegs war. Hätte ich dem Berliner Christian, so, wie ich ihn kennen gelernt habe, nicht zugetraut!
    Chapeau!
    Karola

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    1. Liebe Karola, angefangen hat das eigentlich alles, als wir uuns das letzte MAl in München gesehen haben. 2002 war das. Du warst so freundlich, mir Deine Wohnung für eine Nacht zur Verfügung zu stellen und ich bin nächsten Tag zu meinem Weg über die Alpen aufgebrochen. Damals auf zwei Hälften aufgeteilt. 2005 und 2006 bin ich dann mit meiner Frau den Camino Frances ab dem Somportpass gelaufen, 2007 und 2008 die Via de la Plata von Sevilla nach Santiago und 2009 nochmal mit Andrea München-Venedig in einem Rutsch. 2010 hab ich dann das Fahrrad mal wieder rausgeholt und seitdem ein paar tausend Kilometer in Europa abgeradelt.
      In Berlin – mein Gott, ich war jung und mehr an Alkohol und dem süßen leben interessiert. Wahrscheinlich waren Axel und ich irgendwann auch ganz schreckliche WG-Mitbewohner. Ich jedenfalls wollte heute nicht mehr mit mir von damals zusammenwohnen. Aber das geht uns wohl allen so.
      Liebe Grüße
      Christian

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